Dienstag, 12. August 2008

Theodor Fontane: Unwiederbringlich

Die Entstehung des Romans "Unwiederbringlich" stimmt zeitlich mit dem Tod Ludwigs II von Bayern überein, vor allem, wenn man den Brief der Julie vn Dobschütz am Schluß betrachtet. In der Zeitgeschichte wie im Roman ertrinkt jemand unter ungeklärten Umständen. War es Selbstmord, Mord? War Gift im Spiel? Die Antwort liegt im Roman bei dem Leser, vielleicht auch beim Interpreten. Am Anfang des Romans liest sich alles ganz anders. Und von Tränen kann vor der Hand nicht die Rede sein.

Der Roman "Unwiederbringlich" von Theodor Fontane ist zunächst mal eine George-Dandin-Geschichte auf allerhöchstem Niveau, wenn der Leser, bzw. die Leserin nicht der feministischen Richtung zuzurechnen ist und von vornherein kein gutes Haar an einem der Protagonisten, dem Grafen Helmuth von Holk, lassen möchte, so wie das bei der Gräfin Christine festzustellen ist. Bei dem Agens, das letzten Endes die Säkularisierung einer Ehe bewirken kann, handelt es sich bei Fontane nicht um einen Galan in Mantel und Degen, sondern um eine geheimnisvolle, religiöse Kraft, der im Prinzip auch der Ehemann nachstrebt. Bei der Geschichte von Georges Dandin handelt es sich indessen um eine Komödie, allerdings eine Komödie von Molière , dessen Dramatik vielfach hart an der Tragik vorbeischrammt.

Eine weitere Parallele zur eben beschriebenen Komödie ist die Unterstützung der Gräfin Christine Holk durch ihre Familie, verkörpert durch ihren ehelosen Bruder, dem Baron Alfred Arne. Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Graf Holk im Gegensatz zu Georges Dandin, nach unten geheiratet hat und auch nicht um des Reichtums willen, während der bürgerliche Georges Dandin nur des Geldes wegen eine Adlige gefreit hat. Dass die Gräfin Christine nicht so unschuldig ist, wie es immer scheinen mag, zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Stellung zu den letzten Dingen, versinnbildlicht durch das Familiengrab, das vollkommen heruntergekmmen ist und einzustürzen droht, was für eine Trauergemeinde noch im Diesseits lebensbedrohlich werden kann. Festgestellt wird dies aber nicht von dem Grafen, der Gräfin, einem Geistlichen oder einem Diener, sondern von den beiden halbwüchsigen Mädchen, Asta, die Tochter Holks, und Elisabeth, der Enkelin von Pastor Petersen, bei einem ihrer Jeux interdits. Die beiden wundern sich sehr. Noch am Ende des Romans ist bezüglich der Neugestaltung mit gotischem Dekor nichts geschehen, obwohl doch die Gräfin praktisch allein das Regiment führt, so dass sie neben der Gruft bestattet werden muss.

Es stellt sich daher durchaus die Frage, wer den dargestellten Pietismus eigentlich verkörpert, Christine oder Helmuth. Pietismus war, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, eine religiöse Bewegung innerhalb des Protestantismus, die aus verschiedenen Quellen gespeist war, unter anderem auch aus evangelisch-reformierten. Der aus einer Hugenottenfamilie stammende Fontane (eigentlich: Henri Théodore Fontane) gehörte bis zu seinem Tod der französisch-reformierten Gemeinde in Berlin an und hatte wohl schon aus diesem Grund Sympathien für die pietistische Regel, dass sich die Erlösung im Jenseits bereits zu Lebzeiten in einem gewissen Wohlstand äußere. Dass, wie bisweilen festgestellt wurde, Fontane wenig religiös war, kann aus all dem nicht abgeleitet werden, auch nicht eine lutherische Ausrichtung der preußischen Monarchie. Seit Friedrich dem Großen pflegte man die Union, eine Synthese aus Luthertum und Calvinismus, was durchaus eine lutherische Ausrichtung einzelner Individuen und Gruppen nicht ausschließt. Die skandinavischen und schleswig-holsteinischen Protestanten sind meist Lutheraner, wobei Holk voll und ganz pietistischen Vorstellungen entspricht. Dadurch hat er sich ein gutes Stück in Richtung Calvinismus bewegt. Darüberhinaus versteht es der Pietismus, soweit er noch bis in spätere Epochen fortbesteht, die Forderung nach einem positiven Lebenswandel mit prostitutiven Elementen zu verquicken, was letzten Endes die Kopenhagen-Abenteuer des Grafen Holk, aber auch die angestrebte öffentliche Erziehung der Kinder motiviert. In der höfischen Umgebung gelingt es so dem Grafen, seine Umwelt für sich einzunehmen, auch wenn seine offensichtliche Suche nach der "schönen Seele" an dem als lasterhaft verschrienen Hof in jeder Hinsicht obsolet erscheint. Letzten Endes sieht er die "schöne Seele" in jeder Frau, um hier einmal Goethe in's Spiel zu bringen.

Dass der deutsch-dänische Krieg bevorsteht, beeindruckt den Grafen Holk in seiner Pflichterfüllung nicht wirklich, auch wenn er sich dadurch in dänisch-nationalen Kreisen der Gefahr aussetzt, als Deutscher gekennzeichnet zu werden. Böse gemeint sind die einschlägigen Anspielungen ohnehin nur selten. Allerdings gibt es auch eine Zeit nach dem Krieg mit der Aussicht, als Diplomat am gleichen Ort tätig werden zu können. Mit Leichtlebigkeit und Unbekümmertheit hat das recht eigentlich wenig zu tun.

Es schwingt wohl viel von der Prädestinationslehre mit, wenn beim Einsetzen der Erzählung die Würfel im Hinblick auf das Ende des Romans bereits gefallen sind. Die Fronten sind verhärtet. Christine übt verstärkt argumentatorischen Druck auf ihren Mann aus, zum einen durch ihre Beziehung zu dem Fräulein von Dobschütz, mit der sie in einer Art lesbisch-alternativen Ehe zusammenhaust, zum anderen durch Schuldzuweisungen an ihren Ehemann und durch Vorwürfe, die seinen angeblich (oder auch konkret) schlechten Charakter untermauern sollen. Holk ist allerdings nicht bereit, etwa so wie Jonathan Swifts Gulliver in Christine die unnahbare Pfededame zu verehren und infolgedessen auch nicht, irgendwelche Yahoos zu fliehen, die bei Fontane recht zivilisiert als gesellschaftliche Wesen und in mancherlei Form auftreten. Das geschieht, um nicht als Robinson auf einer einsamen Insel und das umgeben von vielen Menschen zu erscheinen.

In der Beziehung zu Ebba indessen schlägt der Georges Dandin in Holk zurück, was in dieser Form bei Molière nicht vorgeprägt ist. Im Lichte des Luthertums in Verbindung mit der aufkommenden Psychoanalyse ist der Fehltritt bzw. der angebliche Fehltritt als Akt der Befreiung zu interpretieren, als die Befreiung des Christenmenschen von einem Über-Ich, das bei Fontane in Gestalt des Schwagers auftritt. Dabei ist, wie bei F. üblich, nichts über den sinnlichen Gehalt des Ehebruchs ausgesagt. Von allen fontaneschen Figuren traut man Holk allerdings die Befriedigung der Fleischeslust am ehesten zu und darüberhinaus auch noch einen "Hang zum Küchenpersonal", das in "Unwiederbringlich" Holk als Brigitte Hansen oder als Karin entgegentritt.

Dass Holk in der Beziehung zu Ebba in Wirklichkeit seinen Schwager bekämpft, ist ein starkes Motiv für deren Ablehnung des Heiratsantrages. Ebba ist sich wohl bewusst, dass das Problem Holks nicht eigentlich in seiner Ehe begründet liegt. Er hat seine Frau ja schließlich vor Jahren geheiratet und zwei fast erwachsene Kinder mit ihr. Trotz einiger Liberalität oder gerade wegen dieser ist es ausgesprochen schwierig zu urteilen, Holk hätte Christine überhaupt nicht heiraten sollen.

Vom Tod der Gräfin Holk erfährt der Leser aus dem abschließenden Brief der Julie von Dobschütz an den Superintendenten Schwarzkoppen. Darin ist von einer Art Selbstmord die Rede, dem allerdings eine Geisteskrankheit zu Grunde liegen muss, soll der Dahingeschiedenen dennoch ein christliches Angedenken zu Teil werden. Aus der Beerdigung sind keine Rückschlüsse möglich. Der 80jährige Pfarrer Petersen ist zwar anwesend, sagt aber kein Wort. Der Leser ist durchaus gehalten, im Vergleich mit Goethe's Werther ("Handwerker trugen ihn") seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Julie von Dobschütz tritt als Anwältin ihrer Freundin auf, und der Brief ist eine Art Plädoyer. Danach erscheint überhaupt der Roman in einem ganz anderen Licht: Als die Erzählung einsetzt, ist die Gräfin bereits von einer beginnenden Gemütskrankheit gezeichnet, die vom Baron Alfred Arne in einem seiner ersten Briefe nach Kopenhagen heruntergespielt wird. Mit dem zunehmenden Erzähltempo verschlimmert sich auch die Krankheit, bis am Ende nicht einmal die intimste Freundin Julie von Dobschütz Christine zu erreichen vermag. Die Krankheit ist durch das Nicht-vergessen-Können charakterisiert. Es stellt sich die Frage, was genau sie nicht vergessen kann. Namentlich bei Fontane sind die Interpreten immer schnell mit einer eindimensionalen Beurteilung bei der Hand, so dass nur der Ehebruch als Auslöser für das seelische Ungleichgewicht in Frage kommt. Dass Christine die Heirat nicht vergessen kann und aus diesem Grunde versucht, diese zu wiederholen, wirft ein weitaus milderes Licht auf die Gemütskranke. Einen der letzten lichten Momente erlebt Christine bei der Wiedervermählung., wo sie sich noch während der Zeremonie wie selbstverständlich an Holk wendet. Sie freut sich über die vielen erschienenen Hochzeitsgäste, die sie für eine Heilige halten, was sie aber bestreitet.

Der personale Erzähler verschafft hier dem Leser durchaus einen Informationsvorsprung, und Fontane ist als dessen Urheber diesem ausgesprochen nahe, wenn immer auch Rezepte für allerlei Tees etc. zur Hand sind. Der Autor verleugnet seine berufliche Herkunft als Apotheker keineswegs. Auch die auffällig genauen Beschreibungen von Gärten stehen in diesem Zusammenhang. Fontane stellt sich damit durchaus auf die Seite derjenigen, die psychische Erkrankungen medikamentös behandeln wollen. Die durchaus kritikwürdige Ruhigstellung mit der pharmazeutischen Keule kennt er aber (noch) nicht. (Vergl. Goethe's Wilhelm Meister, wo der Wahnsinn des Harfners ebenfalls bereits behandelbar erscheint.)

Es ist wohl auch so, dass Christine Holk eine überaus delikate Sublimierung der Grete Minde darstellt. Dass diese, durchaus das Urbild einer Terroristin, vom Irrsin gezeichnet ist, spricht der Erzähler dieser Novelle offen aus, was durchaus einen Erlösungs- und Sühnegedanken beinhaltet. Nachdem Ebba Rosenberg offensichtlich auch die Krankheit der Christine Holk durchschaut, ist ihre Ablehnung doppelt motiviert. Wie Ebba nach Holks Weggang schluchzend in die Kissen fällt, erspart Fontane seinem Lesepublikum ebenso wie frivole Anzüglichkeiten. Ausgespart wird jedoch nicht die dritte Hochzeit Christines, die in Form ihrer Beerdigung stattfindet.

Möglicherweise stellt es auch die höchste Kunst des Erzählens dar, wenn beim Leser Tränen fließen, zumal wenn die diesbezügliche Protagonistin recht eigentlich nicht das Objekt der Sympathielenkung gewesen ist. Denn für die rigiden Positionen von Christine Holk kommt an keiner Stelle Verständnis auf, höchstens eine rational motivierte Zustimmung, weil das Propagierte im kulturellen und auch religiösen Sinn kathegorischer Imperativ ist.

Auch die Struktur ist in "Unwiederbringlich" durchaus aufschlussreich. Abgesehen von den hin- und hergehenden Briefen spielt die Handlung nur am Anfang und ganz am Ende auf Schloss Holkenäs. Die Geschichte von der Ablehnung von Holks Werben durch Ebba bis zum Tod der Gräfin Christine nimmt nur eben mal ein Fünftel des Romans ein. Kaum länger ist die von dessen Anfang bis zur Abreise Holks nach Kopenhagen. Das heißt: Drei Fünftel des Romans spielen in Dänemark und handeln von Holks Mission bei der Prinzessin. Auch dieser Aufenthalt ist nicht unstrukturiert. Eine wichtige Zäsur stellt die Übersiedlung nach Schloss Fredriksborg dar. Auf Grund der ursprünglichen Planung wird klar, dass Holk seine Mission auf Fredriksborg wird beenden müssen. Die Brandkatastrophe jedoch stürzt nicht zuletzt die Handlung in's Chaos, zumindest im Vergleich zum bisherigen sehr behäbigen Fortgang. Nun überschlagen sich die Ereignisse.

Dass das letzte Fünftel des Romans drei ganze Jahre abdeckt und die Geschichte bis dahin nur wenige Monate, überrascht bei F. nicht. Jedenfalls ergibt sich die Konsequenz, dass die zweite Hochzeit und der Tod Christines, anders als bei der konkreten Vorlage zur Geschichte, doch einige Monate auseinanderliegen. Ebenso wie Hilde in Ellernklipp noch eine Chance zur Besserung im Diesseits bekommt, gewährt das Schicksal auch Christine die Möglichkeit, sich mit ihrer Umgebung auszusöhnen, was den Roman doch noch aus der Hoffnungslosigkeit herausführt.



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